Autorin: Mariam Babachanjan

Wie oft sieht man eine Ausschreibung für einen Jugendtreff oder ein Projekt und denkt sich: „Soll ich…?“ Auch diesmal ging es mir so. Libanon. Waisenhaus. Armenisch. Diese Worte fesseln mich und lassen mich nicht mehr los. Meine Anmeldung geht raus. Immer wieder wird meine Entscheidung von Familie und Freunden hinterfragt, die sich wegen des Standorts Sorgen machen. Das Unbekannte – das Weite. Ich bleibe standfest. Warum ich diese Entscheidung niemals bereuen werde und es einer der besten Entscheidungen meines Lebens war, erfahrt ihr hier.

Frankfurt Flughafen, Abflug 10:30 Uhr. Wir sitzen in einer gemütlichen Runde, trinken Kaffee, essen eine Kleinigkeit und warten auf das Boarding. Einige Gesichter sind schon aus Jugendtreffs und anderen Veranstaltungen bekannt, manche Gesichter völlig neu. Wobei, kann ein armenisches Gesicht „völlig neu“ sein? Mir geben sie alle ein vertrautes und familiäres Gefühl, als hätte man sie alle schon gekannt – eine große Familie von 15 Leuten. 

Vier Stunden Flug und wir kommen an. Raus aus dem Flughafen werden wir von Hagop und Robert mit einem Willkommensschild empfangen, die vorab angereist waren. Es fühlt sich fast so an wie in Armenien, wenn die Familie am Ausgang wartet und plötzlich, wenn die Tür aufgeht, man mit einem liebevollen Lächeln und Händeschwenken empfangen wird. Fremde? Sowas spüren wir nicht.

Tag 1: „Sieht aus wie in Armenien!“

Unsere Busreise zum Apartment in Beirut führt uns in eine neue und doch vertraute Welt. „Sieht aus wie in Armenien.“ Je näher wir zum Apartment in Bourj Hammoud kommen, desto mehr macht sich dieses Gefühl bemerkbar. Hier ein Gebäude mit armenischen Inschriften, dort eine Artshakh Flagge. Die Begeisterung steigt in allen Gesichtern. Erst als wir die riesigen Koffer abladen und realisieren, dass wir ins 9. Stock müssen, verschwindet die Begeisterung schnell. Die Tatsache, dass wir wahrscheinlich kein fließendes Wasser, oder nur sehr wenig haben werden, lässt die Stimmung ebenfalls schwanken. Als wir uns jedoch langsam Richtung Balkon begeben und die atemberaubende Aussicht auf die Stadt wahrnehmen, vergeht die Sorge wieder und erfüllt uns mit Staunen. 

Tag 2: „Endlos viele Arzach Flaggen – die Wände, Balkone, Schaufenster“

Ein letztes Mal sitzen wir vor dem Großeinkauf in Gruppen zusammen, um uns einen Überblick zu verschaffen, was wir für unsere Aktivitäten im Waisenhaus brauchen. Hagop und Anush versuchen die Übersicht zwischen Fremdwährung und endlos langer Einkaufsliste zu bewahren. Dann geht es endlich los, raus auf die Einkaufstraße in Bourj Hammoud, geschmückt mit endlos vielen Arzach Flaggen – die Wände, Balkone, Schaufenster – jeder versucht, mit seinem Teil auf die aktuelle Lage aufmerksam zu machen. Uns erfüllt es mit Stolz und Patriotismus, all diese armenischen Läden und Menschen zu sehen. Immer mehr entdecken wir in unerwarteten Seitenstraßen armenische Kirchen, Läden und eine große armenische Schule, die von einem Pförtner überwacht wird. 

Tag 3: „Die endlose Schönheit von Libanon und dem Waisenhaus“

Wir sitzen im Bus Richtung Waisenhaus. In der einen Hälfte des Busses wir. In der anderen Hälfte Tüten voller Geschenke für die Kinder. Wir wissen noch nicht, was uns erwartet und wie die Kinder auf uns reagieren werden. Unsicherheit und Vorfreude mischen sich zu einem uns unbekannten Gefühl zusammen. Auf der Fahrt entdecken wir die endlose Schönheit vom Libanon, die sich gerade in Byblos bemerkbar macht. Das Tor öffnet sich langsam und wir fahren ins Waisenhaus hinein. Einige der Kinder entdecken uns und schauen kritisch und interessiert in unsere Richtung. Erstmal noch von aus der Entfernung. Jedoch nähert sich uns bald eine mutige kleine Dame und wird schnell unsere Begleiterin, während wir durch das Gelände geführt werden. 

Unsere Emotionen sind immer noch verstrickt. Läuft man durch das Tor des Waisenhauses hinein, entdeckt man als erstes das Genozid-Museum, welches begleitet von Kinderskulpturen ins Gebäude hineinführt. Zeitgleich ertönen durch einen Lautsprecher Originalaufnahmen von damaligen Waisenkindern und einer alten armenischen Melodie. Links und rechts im Geländer entdecken wir Limonen- und Avocadobäume und bleiben im Staunen, als wir den Ausblick aufs Meer vom Waisenhaus sehen. Unvergesslich. 

Tag x bis endlos

Unser erstes Kennenlernen mit den Kindern findet in der offenen Veranda statt, wo wir alle gemeinsam zu Mittag essen. Spätestens als wir am Nachmittag zum Freizeitpark fahren und sich die Hemmungen auf der Achterbahn lösen, entstehen die ersten Freundschaften mit den Kindern. Noch nicht ahnend, wie sehr wir uns in so kurzer Zeit wie zu Hause und in einer Familie fühlen werden. Unsere nächsten Tage begleiten uns mit diversen Programmaktivitäten. Sportmatch. Tanzkurs. Spieleabend. Kreativworkshop. Musikworkshop. Schnitzeljagd. Talentshow, etc. Die Liste mit Aktivitäten ist endlos lang und doch entdecken wir immer wieder aufs Neue, wie sehr wir und die Kinder daran Freude finden und uns näherkommen. Auch gerade zwischen den Aktivitäten, zum Beispiel beim Essen, wo plötzlich Stühle gerückt werden und ein Kind nach dem anderen jemanden zu sich ruft. Ein Lächeln hier. Eine Träne da. Es fühlt sich wie eine Ewigkeit, oder gar noch zeitlos an. Eine schöne Ewigkeit, bei der man sich wünscht, sie würde nicht zu Ende gehen.

Wir bleiben im Staunen, nicht nur aufgrund der Warmherzigkeit, die wir erleben, sondern auch darüber, wie die Kinder miteinander umgehen. Die älteren Kinder kümmern sich um die jüngeren mit solch einer Sorgfalt und Selbstverständlichkeit. Letztlich sind es Kinder, es wird geschrien und geweint, hier etwas geworfen und gelacht. Und doch bleibt am Ende immer nur die Liebe und der Respekt füreinander.

Gerade auch am letzten Tag verstehen wir, mit welch großem Herzen die Kinder ihre Liebe teilen. Während der Talentshow, mit viel Gesang und Tanz, realisieren einige der Kinder, dass sich unser Abschied nähert und es fließen die ersten Tränen. Auch wir nehmen die Selbstverständlichkeit der Fürsorge an und versuchen, den Abschied zu erleichtern. Für einen Moment steigt wieder Freude und ein Lächeln auf, als wir anfangen, die Geschenke zu verteilen. Doch was uns im nächsten Moment erwartet, wird uns für immer in Erinnerung bleiben. Nach nur wenigen Minuten mit den Geschenken wenden sich die Kinder direkt wieder uns zu und spätestens jetzt verlieren wir die Übersicht darüber, wen wir als erstes trösten und die Tränen trocknen sollen. Einige der Kinder weinen lautstark und mit stampfenden Füßen an der Treppe, einige andere in unseren Armen und in denen der Betreuenden. Einige nehmen sich untereinander in die Arme. Es ist eine dieser Situationen und Gefühle, die man nicht in Worte fassen kann. Es ist etwas, was man erlebt haben muss. Ich erinnere mich wieder an die Heimat. Der Abflugtag. Der Moment, wo man versucht, stark zu sein und der Familie ein letztes Lächeln gibt, bevor man durch das Gate geht. Und doch mischt sich das Lächeln immer mit solch einem Tränenfluss, den man nicht aufhalten kann. 

Die letzten Tage im Libanon und mein DANK AN ARI

An dieser Stelle gilt es nur noch ein fettes DANKESCHÖN an ARI zu sagen, die uns die Möglichkeit gegeben haben, eine unvergessliche Zeit mit den Kindern und im Land zu erleben. Nach unserer Zeit im Waisenhaus hatten wir noch Zeit, um einige Ecken im Libanon zu entdecken. Auch hier könnte ich nochmal im Detail auf die unerwartet schönen Orte und Erlebnisse eingehen, doch auch hier würde ich sagen, nur die Erfahrung beschreibt es am besten.

Vielen Dank an jeden Einzelnen aus dem ARI-Vorstand, aber auch jeden Einzelnen aus unserer Gruppe, die die Reise unbeschreiblich schön gemacht haben. Und zu meiner Frage vor der Reise und zu der Frage, die du dir auch vielleicht gerade stellst: „Soll ich…?“ – 

„Unsere Zweifel sind Verräter und häufig die Ursache für den Verlust von Dingen, die wir gewinnen könnten, scheuten wir nicht den Versuch.“ (William Shakespeare)