Der Armenische Winter-Jugendtreff 2022 – Exposé von Anna Movsesjan

16.12.2022, irgendwo in Bad-Karlshafen, abends…

Die Koffer im gefrorenen Gestrüpp knirschend,

meine Balance verzweifelt auf Absatzstiefeln haltend,

vier Armenier*innen, eine von ihnen meine Schwester, keuchend und schnaufend,

die Taschenlampe gegen die Dunkelheit richtend, das Ziel sichtend,

tun sie alle eins: Den Eisberg erklimmen.

Den Blick stets nach oben zu den verheißungsvollen Lichtern der Jugendherberge steuern, um die Kälte so gut es geht zu dimmen.

Mit roter Nase und vereisten Füßen betreten wir die einladende Wärme der Jugendherberge und blicken in die freundlich neugierigen Augen weiterer Teilnehmender:

Wir sind endlich da und der Beginn eines unvergesslichen Wochenendes ganz nah. Ein „Hallo“ hier, ein „Barev“¹ dort,

ein bekanntes Gesicht folgt auf viele Unbekannte,

und doch treiben sie alle meine Aufregung fort.

Minuten und dann Stunden beisammen am Tisch gefüllt mit Fragen, Freuden – Pünktlichkeit?

Quatsch, viele Leute kommen erst spät reingeschneit – ja, da fühlt man sich doch gleich armenisch.

Zeit ist es nun für die Kennenlernspiele,

denn kennen tut man bis dato noch nicht allzu viele!

Wir stellen uns vor, wir stellen unsere Wurf- und Fangkünste² vor, wir stellen das Vermeiden von Blickkontakt à la „Bloß nicht ich!“ vor.

Doch viel wichtiger: Wir bekommen die Berliner-Gang vorgestellt; eine Reihe junger Schüler*innen, die uns zeigen, dass auch nach armenischer Art „Berlin lebt“.

Und mit Besuch aus England und Belgien ist die Teilnehmerliste sogar international belegt.

Nach zahlreichen Runden „Hay es du? Hay em es! Vakh qo zavet tanem es!”³, neigt sich der Abend (oder eher die Nacht) dem Ende zu.

Der Morgen naht, die Herberge erwacht, Müdigkeit entfacht, 

denn Frühstück gibt es schon um acht!

Magen gefüllt, lieb gewonnene Menschen begrüßt, 

gequatscht und damit bereits den Tag versüßt,

machen meine Schwester und ich uns auf den Weg zur Vorstellung des ARI-Jugendverbandes.

An dieser Stelle: Danke „ARI“ für euer Engagement!

Danke für das aktive Tun, statt nur zu fragen „was nun?“.

Danke für das Geben, statt zu nehmen.

Danke für das Verbinden, statt es zuzulassen, sich niemals zu finden.

Der Fotoworkshop folgt.

Daniel Gansen und Emilia Minasyan zeigen uns die Schönheit der Fotografie, 

öffnen eine Welt, die tiefer geht als ein Selfie.

Auch die charakterbestimmende Bedeutung von Stühlen wird klar,

Bei uns Armeniern stellt sich dies durch „Divan mashel”⁴  dar.

Das Mittagessen lässt uns Energie tanken,

um anschließend Rojda Arjin Celik mit unserer Anwesenheit zu danken.

Ihr aufklärender Vortrag über die Armenier*innen in Dersim und das Leben gemeinsam mit den Alevit*innen, 

hatte als Reaktion viel Staunen, Neugier und große Anerkennung zu bieten.

Singend leiten wir nicht nur den Musikworkshop, sondern auch gleich den Frühling ein („Garun, Garun, Garun e …!”⁵).

Mit Yeksa Bakircian als leitende Stimme, Vasken Ketchedjian an der Gitarre und Masis Wartanian an der Trommel, hat es die Musik einmal mehr geschafft,

und uns allen ein Gefühl der Verbundenheit verschafft.

Nachdem das Abendessen abgelegt ist, schlüpfen Frau- und Herrschaften in Partystimmung. Es wird geduscht, geföhnt, geschminkt, schick gekleidet,

Und die gute Laune bereits mit laut klingenden, die Fluren erhellenden, Liedern begleitet. Rausgeputzt stehen wir nun alle bereit,

Diesmal sogar, man glaubt es kaum, überpünktlich, 

immerhin waren Fotosessions angekündigt!

Nach zahlreichen Fotoversuchen (einige erfolgreich, viele gescheitert), das Lächeln auf dem Gesicht bereits schmerzend und die Beine all jener, die für das Foto hocken, brennend, springen sie alle voller Freude beim Anpfiff der Party auf die Tanzfläche.

Das Tanzbein wird geschwungen und Arme und Hüften bewegen sich zum Takt der Musik, die von 50 Cent zu Tata Simonyan und weiter zu Daddy Yankees „Gasolina“ reicht.

Der nächste Tag eröffnet sich für viele erst durch das Mittagessen, während die disziplinierten Vereinsmitglieder den neuen Vorstand morgens wählten und dieser sich am Mittagstisch herzlich beglückwünschen lässt!

Der Workshop „Operation Nemesis“ steht an und beleuchtet die Bedeutung und die vermeintliche Richtigkeit der Selbstjustiz und des gewaltvollen Ausbruchs aus der Unterdrückung.

Lasst uns ins Hier und Jetzt schauen – unsere Zukunft bauen. Das Leben der Armenier*innen nicht im Schmerz der Vergangenheit ertränken, sondern dem Schmerz Stärke und Resilienz schenken.

Der Tanzworkshop beglückt einen Teil von uns mit armenischen Traditionstänzen. Der andere, ebenfalls sportbegeisterte Teil der Teilnehmenden, widmet sich dem WM-Finale. Aber den womöglich bedeutungsvollsten Beitrag leisten all jene, die uns Xorovac⁶ zubereiten und Lavash⁷ brachten! Nachdem unsere Mägen mit diesem Essen gesegnet wurden, lassen wir alle den Abend gemeinsam ausklingen: Im Gemeinschaftraum wird musiziert, im Speisesaal getanzt, im Billiardraum sitzt „the Godfather“ mit seinen Opfern⁸ und hier und da wird gequatscht, gelacht und ein Schachmatt gesetzt.

Der letzte Morgen ist da, der Zeitpunkt des Abschieds ganz nah.

Ein letztes Mal gemeinsam Essen und beim Zimmeraufräumen bloß nichts vergessen!
 Die Bilder des gemeinsamen Wochenendes erscheinen auf der Wand,

Alle schauen gebannt.

Das Vermissen macht sich schon breit; wir alle noch nicht so weit.

Doch der Abschied ist stets Teil der Reise und so hoffen wir auf ein Wiedersehen.

Ich fahr den Eisberg wieder hinunter, diesmal dankbar im Auto.

Physisch ist es nun zwar weniger bewegend, aber im Herzen und in meinen Erinnerungen ist mehr los,

die Bereicherungen der wenigen Tage unendlich groß.

„ARI“ – „Komm!“, sei ein Teil dieser Heiterkeit,

Wir stehen schon alle mit offenen Armen bereit.


¹ Armenisch für „Hallo“.
²
Um die Vorstellungsrunde überschaubar zu halten, wurde ein Kuscheltier zu der Person geworfen, die sich vorstellen soll.
³ Ein bekanntes Lied von Aram Asatryan, in welchem es darum geht wie zwei armenische Personen sich womöglich finden.
⁴ Eine armenische Redensart, um hervorzuheben, wie faul man ist, dass man, statt etwas Sinnvolles zu tun, nur das „Sofa abnutzt“.
⁵ Ein Song von Tiguan Asatryan, in welchem metaphorisch vom Frühling gesungen wird.
⁶ Grillfleisch.
⁷ Armenisches Fladenbrot.
⁸ Spiel „Mafia“= armenische Version vom Spiel „Werwolf“.